Sigrid Krause

Wie wird man eigentlich… Pole-Fitness-Trainerin?

Sigrid Krause entdeckte ihre Leidenschaft erst mit Mitte 40: Heute arbeitet sie erfolgreich als Pole-Fitness-Trainerin und gibt zahlreiche Kurse.

Leicht bekleidete Frauen, die lasziv an der Stange tanzen – viele stecken Pole Dance noch immer in die Erotikschublade. Dabei ist das Workout längst ein anerkannter Leistungssport, der für Kraft und Kreativität steht: Es gibt Weltmeisterschaften und aktuelle Verhandlungen, ob die Sportart bei den nächsten Olympischen Spielen dabei sein soll. Als Sigrid Krause den Auftritt einer Stangenakrobatin bei „Das Supertalent“ sieht, funkt es sofort. Mit Mitte 40 fängt die kaufmännische Angestellte an zu tanzen und entdeckt eine Leidenschaft, die nicht nur sie selbst stärker macht. Heute arbeitet sie nebenberuflich als Tanzpädagogin, Fitness-Trainerin und Mental Coach und vermittelt in ihren Kursen Beweglichkeit und Selbstvertrauen.

Viele Menschen stellen irgendwann fest, dass sie nicht das Leben führen, das sie sich einmal erträumt haben. Pragmatische Entscheidungen bei der Berufswahl, familiäre Vorgaben oder der Alltagstrott lassen uns oft unsere eigenen Bedürfnisse vergessen und machen aus einem Provisorium einen Dauerzustand. Doch es ist nie zu spät, sich einen Lebenstraum doch noch zu erfüllen, wie das Beispiel von Sigrid Krause zeigt. „Das Leben ist zu kurz, um seine Träume aufzuschieben“, sagt die 57-jährige Tönisvorsterin mit fester Stimme und nimmt bedächtig einen Schluck Pfefferminztee, bevor sie in eine teils bedrückende Kindheit eintaucht. Ihre kreative Ader und den ausgeprägten Bewegungsdrang verdanke sie ihrer Mutter, die an einer bipolaren Störung litt. „Wenn Mama nicht gerade depressiv auf der Couch lag, hat sie in ihren euphorischen Hochphasen viel mit uns unternommen“, erinnert sich Sigrid liebevoll an Nachmittage an der frischen Luft. „Wir waren eigentlich immer draußen, haben mit den Nachbarskindern gespielt und sind auf Bäume geklettert.“ Auch weil Papa viel gearbeitet habe und kaum für die Familie da gewesen sei. Umso enger ist das Verhältnis zwischen Sigrid und ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder – die zwei halten in schwierigen Phasen zusammen und bilden „ein Herz und eine Seele“, auch nach der Scheidung der Eltern.

Nach der Schule absolviert die gebürtige Duisburgerin, die viele nur „Siggi“ nennen, eine kaufmännische Ausbildung bei Thyssen, dem Arbeitgeber ihres Vaters. Sie ist sprachbegabt, spricht Englisch, Spanisch und Französisch, verbringt beruflich Zeit im Ausland und lernt in Barcelona ihren Ehemann Olaf kennen und lieben. Zurück in Deutschland kaufen sie am Niederrhein ein Häuschen, bauen sich ein gemeinsames Leben auf. Dann stirbt ihr Bruder, gelernter Elektroniker, im Jahr 2001 an einem Stromschlag. „Es ging mir nach seinem Tod sehr schlecht, ich habe acht Kilo abgenommen“, beschreibt Sigrid sachlich einen Schicksalsschlag, der andere Menschen komplett aus der Bahn werfen würde. Aber sie reißt sich zusammen, das Leben geht irgendwie weiter, da trifft es sie erneut: Ihr Vater erkrankt mit 68 Jahren an der unheilbaren Erbkrankheit ALS (amyotrophe Lateralsklerose). Die „Ice Bucket Challenge“, bei der sich Menschen für Internetvideos mit Eiswürfeln übergießen, rückte 2014 die Erkrankung des Nervensystems ins Licht der Öffentlichkeit. Siggi weist ernst auf die Heimtücke der Krankheit hin: „Ich habe oft bei Facebook kommentiert, dass ALS kein Spaß ist und zu Muskelschwund und Lähmungen führt. Für Bewegungsmenschen ist es die Hölle: Am Ende konnte mein Vater sich weder rühren noch sprechen. Er starb zwei Jahre nach der Diagnose, wie zuvor schon sein Bruder und seine zwei Schwestern.“ Das Fatale: Die Wahrscheinlichkeit, dass auch Sigrid an ALS erkranken wird, liegt bei 50 Prozent. „Mein Glas ist eher halb voll“, schaut die begeisterungsfähige Frau lieber positiv in die Zukunft. Der Auftritt einer Pole Dancerin in der TV-Show „Das Supertalent“ bringt die damals 45-Jährige auf eine Idee: „Das will ich auch probieren!“ In diesem Moment weiß sie noch nicht, dass ihr Leben eine andere Richtung einschlagen wird.

Weil es zu der Zeit noch wenige seriöse Fitnessangebote gibt, besucht sie Pole-Dance-Kurse in Hilden und ist sofort fasziniert: „Diese Mischung aus sportlich und elegant, die Körperspannung, die Akrobatik – ich fand dieses Ganzkörper-Workout auf Anhieb super.“ Seit einigen Jahren sorgen Akrobatinnen und Akrobaten, die in den sozialen Medien Kunststücke an der Pole-Stange vollführen, für eine höhere Aufmerksamkeit und entsprechend mehr Nachfrage nach diesem Sport. Der Ursprung des Pole Dance hat dabei nichts mit schummrigen Nachtclubs gemeinsam: Der heutige Trendsport stammt aus der traditionellen asiatischen Akrobatik – und wurde nur von Männern ausgeübt. Erste Aufzeichnungen stammen bereits aus dem 12. Jahrhundert. Im Zirkus zeigten die Pole-Artisten dann akrobatische Haltungen und Schwünge an vertikalen Stangen. Siggi weiß schnell, dasssie nicht nur selbst tanzen, sondern auch Trainerin werden möchte, um ihre Leidenschaft zu teilen: „Es gibt viele junge Mädels in den Studios, aber ich möchte eine ältere Zielgruppe ansprechen.“ Sie bildet sich in Paris, Zürich und Hamburg weiter, absolviert Ausbildungen zur Fitness- und Gesundheits-Trainerin und als Mental Coach. Im Studio Danza findet sie eine sportliche Heimat, um in ihrer Freizeit erste Kurse an der Stange anzubieten. „Das Tanzen ist für mich wie Therapie“, verrät sie mit einem dezenten Lächeln und wirft die langen blonden Haare zurück. „Wenn ich tanze, verliere ich mich in der Musik. Jede Bewegung ist Ausdruck tiefster Gefühle, jeder Schritt ist Leidenschaft und pure Freude. Und das gebe ich gern an meine Polerinas weiter.“

Wenn Sigrid tanzt, verliert sie sich ganz in der Bewegung.

Die Geschichte könnte jetzt einfach so weiterlaufen, als etwas für sie Unfassbares passiert: 2018 erkrankt auch ihre Cousine an ALS und verstirbt im Alter von nur 51 Jahren. Es ist ein tiefer und heilsamer Schock für die Management-Assistentin Sigrid, spontan reduziert sie ihre Stundenzahl im Hauptberuf. Ab sofort will sie keine Träume mehr aufschieben und mehr davon tun, wofür ihr Herz schlägt – und das ist Tanzen! In Neuss durchläuft sie eine zweijährige Fortbildung zur Tanzpädagogin, lernt dort weitere wichtige Grundlagen kennen wie Choreographie, Rhythmus und Musikalität. Diese Qualifikation ist ihr sehr wichtig, denn Berufe wie Tanzlehrer oder Fitness-Trainer sind in Deutschland nicht geschützt. „Man sollte nicht nur über Kenntnisse in Anatomie und Physiologie verfügen, wenn man Menschen unterrichten möchte, sondern auch eine gute pädagogische Basis besitzen“, betont Sigrid selbstbewusst. Wie resilient sie eigentlich ist, wird deutlich, als sie gewohnt ruhig vom Tod ihrer Mutter zu Beginn der Coronazeit erzählt. „Ich hätte die Ausbildung fast hingeschmissen, auch wegen der zwei Lockdowns, die das Lernen so schwer machten“, blickt sie auf diese herausfordernde Phase zurück. „Aber meine Mama war so superstolz auf mich, hat mich ‚meine Pina Bausch‘ genannt – da konnte ich doch nicht aufgeben und sie im Stich lassen.“ Den Abschluss macht sie wie geplant.

Inzwischen hat die Pole-Fitness-Trainerin ihr Portfolio um Luftakrobatik (Aerial Hoop mit runden Stahlringen), Turnen in Tüchern (Aerial Hammock) sowie Acro Chair Dance (mit Einsatz von Stühlen) erweitert. Auch für Junggesellinnenabschiede oder Betriebsfeiern ist das kleine Team von Aerial Art gewappnet. Egal, für welches Angebot man sich entscheidet – es wird eine „Reise zu Stärke und Selbstvertrauen“ werden, verspricht Sigrid in ihrem neuesten Flyer. Ihr eigenes Leben mit vielen Höhen und Tiefen beweist, dass solche Sätze keine leeren Worthülsen sein müssen. Und dass man im Leben nie zu alt ist, um einen kleinen oder großen Traum zu verwirklichen. Worauf warten?

Studio Danza
Alter Graben 43-45
47918 Tönisvorst
Telefon: 0177 8915957
E-Mail: info@studio-danza.de
studio-danza.de

Fotos: Felix Burandt
Artikel teilen: